Nov. 8, 2023

Feine Fassaden

Tektonik Schweizer Stadthäuser 
Hochschule Luzern – Technik & Architektur,
Institut für Architektur
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Quart Verlag


Editors: Lando Rossmaier, Karin Ohashi (Hg)

Am Institut für Architektur (IAR) der Hochschule Luzern – Technik & Architektur lernen, lehren und forschen wir zur Architektur und zum Städtebau. Doch wie geht man das an in einer Zeit, in der alles in Bewegung scheint und weniges als sicher gilt – am Anfang des 21. Jahrhunderts, an dem wir um ein aktualisiertes Selbstverständnis der Baukultur ringen, Antworten zur Ressourcenübernutzung, zum Klimawandel, zum demografischen Wandel suchen und überdies die damit einhergehenden Wertesysteme zu verhandeln haben? Seit der industriellen Revolution spiegeln sich die Herausforderungen in der Architektur und im Städtebau unmissverständlich. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg gewannen sie gar global an Bedeutung und schienen etlichen beherrschbar – was aus heutiger Sicht bezweifelt werden kann.

Sigfried Giedion schrieb 1962 in der Einleitung zu Raum, Zeit, Architektur: «Augenblicklich zeigt sich in der Architektur eine gewisse Verwirrung; wie in der Malerei herrscht eine Art Pause. Jedermann ist sich dessen bewusst. Ermüdung ist gewöhnlich von Unsicherheit – was tun, wohin gehen – begleitet. Ermüdung ist die Mutter der Unentschlossenheit. Sie öffnet die Tür zur Flucht vor der Wirklichkeit, führt zu Oberflächlichkeiten aller Art.» 

Die vorliegende Publikation nimmt sich Feinen Fassaden an – einer Baukultur der stillen Gesichter der Schweizer Städte des 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Sie illustriert mit der Gegenüberstellung jeweils einer Fotografie und einer Isometrie das Wesen der strassenzugewandten Seiten der Gebäude und deren unmittelbar angrenzenden Raumschichten in Ausdruck und Konstruktion. Fern vom Sensationellen sucht Lando Rossmaier mit seinen Studierenden Zeitlosigkeit und Ruhe im architektonischen Handwerk, welches sich im Begriff der Tektonik wiederfindet. Zusammen mit Karin Ohashi präsentiert Rossmaier eine Auslese, welche sich gegen die sich durchsetzende Beliebigkeit und Bedeutungslosigkeit der zeitgenössischen Architektur stellt.

Die Auseinandersetzung mit der Tektonik erweist sich als Angelpunkt in der Diskussion um gesellschaftliche Wertesysteme, welche uns als Architektinnen und Architekten weiterhin nicht aus der Verantwortung lässt. Im Schulterschluss mit dem von Caroline Ting verantworteten IAR-Online-Archiv Architekturbibliothek und Textbeiträgen der Kunsthistorikerin Bettina Köhler sowie praktizierenden Architektinnen und Architekten erforscht die vorliegende Publikation den von Kenneth Frampton so stark geprägten Begriff. Eine Hinwendung zur Tektonik mag als Kompass dienen, um die Beliebigkeit zu überwinden und mit Offenheit, Selbstvertrauen und höchstem Anspruch die grossen Herausforderungen anzugehen. Mit diesem Begriff einer gesellschaftlich getragenen Baukultur werden wir in der Lage sein, unseren Lebensraum den nächsten Generationen zuversichtlich zu übergeben.

Johannes Käferstein


Die Maske ist nicht, was sie darstellt

Nachdem der Begriff der Tektonik durch die Moderne hinweg und bis in die Zeit unserer Ausbildung hinein noch erfolgreich totgeschwiegen wurde und erst Anfang der 1990er Jahren durch Hans Kollhoff und Kenneth Frampton neu aufgelegt wurde, hat die Diskussion um sie an den Architekturschulen in den letzten Jahren erheblich an Fahrt aufgenommen. Das Interesse an der Konstruktion als Ort der Verhandlung von Material und Ausdruck und die Lust am Auseinandernehmen und wieder Zusammenfügen sind heute nicht mehr aus unserem architektonischen Handwerk wegzudenken und treiben im besten Fall das Entwerfen an. Damit können wir den Begriff der Tektonik in die Nähe von Kenneth Framptons Definition einer «Poesie der Konstruktion» rücken.

Eduard Sekler hat in einer Art Triangulation lapidar drei Begriffe als eine Reihe von aufeinanderfolgenden Schritten unterschieden: «Struktur als Prinzip und immanente Ordnung wird verwirklicht durch Konstruktion, aber erst die Tektonik macht Struktur und Konstruktion künstlerisch sichtbar und verhilft ihnen zum Ausdruck.» Dabei sind Struktur und Konstruktion unabdingbar, um ein Bauwerk überhaupt zu errichten. Tektonik hingegen geht darüber hinaus und formuliert das, was wir unter Baukunst verstehen. Sobald mit Struktur gearbeitet (con-struere) und sie materiell wird (oder umgekehrt dem Material zur Struktur verholfen wird), kann Tektonik als Thema fruchtbar werden.

Wie verstehen wir nun den theoretischen Begriff in unserer Praxis als entwerfende Architektinnen und Architekten? Was uns von Beginn an interessiert hat, war das Fügen von Teilen zu einem grösseren Ganzen und im Speziellen das Thema des Knotens, das einen enormen Spielraum in sich trägt und sich ganz im Sinne von Gottfried Semper auf eine Vielzahl von entwerferischen Problemstellungen anwenden lässt. Als Schlüssel dienen uns handfeste und anschauliche Begriffe wie das Ineinandergreifen, Verzahnen, Überspringen, Verschränken, um das In-Beziehung-Setzen der Elemente in Gang zu bringen und das mannigfaltige Zusammenkommen der Bauteile in einem komplexen Knoten zu verhandeln.

Nicht die Anordnung der Dinge allein ist wesentlich. Ihre Reaktion aufeinander an der Stelle des Zusammenkommens macht die Kunst des Fügens insofern zu einer zweifachen Tätigkeit, als der Knoten die Struktur des Ganzen mitbestimmt und umgekehrt das Ganze den Knoten informiert. Nicht umsonst heisst das brillante Standardwerk von Klaus Zwerger, in dem er den traditionellen europäischen und asiatischen Holzbau vergleicht und frappante Wesensverwandtschaften findet, Das Holz und seine Verbindungen. Das Material an sich ist stumm und unbescholten. Erst die Arbeit an ihm und mit ihm, das Fertigen von Teilen und Verbindungen macht es zum Träger von Bedeutung.

Tektonik entsteht, wenn Struktur lesbar ist und die Konstruktion verständlich wird. Die Fassade des Hauses an der Bankstrasse in Uster gibt uns erst einmal die Auskunft, dass auf den plattenverkleideten Betonpfeilern des Sockels massive, grob verputzte Backsteinwände aufliegen. Die Öffnungen im massiven Mauerwerk sind allerdings weniger als Löcher in einer Wand formuliert, sondern gruppieren sich zu eigentlichen Stapeln aus verschiedenen Fenstertypen, die in ihrer Repetition eine Serie erzeugen. Die prominente Lage in der Stadt verlangt ein entsprechendes Öffnungsverhalten auf Passantenniveau, wo grosszügige Schaufenster Öffentlichkeit in das Haus fliessen lassen. In den beiden darüberliegenden Bürogeschossen ist eine angemessene Belichtung mit mittelformatigen Fensterdimensionen angebracht, die als doppelgeschossige Einheiten zusammengefasst sind. Das Motiv der abnehmenden Transparenz und Repräsentation wird in den letzten beiden Fenstern aufgenommen, welche die Wandfläche erhöhen und dem Wohnen Schutz geben. Die letzten beiden Fenster in der Fassadenfläche nehmen bereits das Gaubenfenster vom Dachgeschoss auf und schlagen eine Brücke über das Vordach hinaus, um den Öffnungsstapel so weit wie möglich über die Traufhöhe in die Vertikale zu entwickeln. Das Bodenfenster schliesst die Erzählung der Fenstersäule auf der Fassadenebene mit einem Augenzwinkern ab.  

«Eine Maske existiert nicht für sich allein; sie setzt andere, reale oder mögliche Masken neben sich voraus, die man ebensogut an ihrer Statt hätte wählen können. […] Eine Maske ist nicht in erster Linie das, was sie darstellt, sondern das, was sie transformiert, d.h. absichtlich nicht darstellt. So wie ein Mythos verneint auch eine Maske ebensoviel, wie sie bejaht. Sie besteht nicht nur aus dem, was sie sagt oder zu sagen meint, sondern aus dem, was sie ausschließt.» – Die Fassade ist für uns weniger das Gesicht des Hauses als vielmehr seine Maske, die das Innere verbirgt und nur jene Dinge und Regungen preisgibt, die der Nutzung angemessen und welche der Stadt zugewandt werden sollen. Sie kommuniziert eine Haltung und gibt nüchtern über eine mögliche innere Befindlichkeit Auskunft. Sie ist der Kristallisationsort des permanenten Herstellens von Sinn und Wirkung. Über das klassische Thema des geschichteten Fassadenaufbaus von Sockel, Mittelteil und Dachabschluss hinaus gelingt eine tektonische Gliederung dann, wenn die Schichten miteinander verschränkt werden – «in a non-simple way», wie es Venturi ausdrücken würde. An- und Abschlüsse, Material- und Farbwechsel gehören zur Klaviatur der städtischen Fassade und bedingen eine Komposition mit den angemessenen Mitteln, um sie zu einer lesbaren Einheit zu gestalten. Erkennbarkeit von Teilen, Wiederholungen, Rhythmus – eine sinnvolle Ordnung – und wiederum Brüche oder Dissonanzen, welche die Ordnung infrage stellen und die Monotonie vermeiden, so wie Strawinsky es in seinen Vorlesungen zur «Musikalischen Poetik» formulierte: «In Wahrheit ist keine Verwechslung möglich zwischen der Monotonie, die aus dem Mangel an Mannigfaltigkeiten entsteht, und der Einheit, die eine Harmonie von Mannigfaltigkeiten ist – ein Maß des Vielfältigen» . Die Mannigfaltigkeit des Ganzen entsteht über das Ineinandergreifen von Teilen, über die Beziehung vom einen zum anderen, über das Fügen in nicht trivialer Weise.
Das (tektonische) Staunen im Anblick eines Dachstuhls von Grubenmann oder eines traditionellen japanischen Hauses lässt die Betrachtenden innehalten und animiert zu einer Suche nach einem Zusammenspiel der hölzernen Teile. Genauso verhält es sich mit einer Fassade, die die Strasse begleitet. Sie soll einerseits städtische Ruhe ausstrahlen und im Wirrwarr der Umgebung Ordnung herstellen und die heterogene Reihe von Nachbarbauten so weit wie möglich sinnvoll ergänzen. Andererseits muss sie aber auch einen Ort der Aufmerksamkeit bilden und beim Betrachten das Spiel mit dem Vokabular der Prinzipien und Kräfte in Gang bringen.

Urs Meister und Johannes Käferstein 



Erhältich

FEINE FASSADEN, TEKTONIK SCHWEIZER STADTHÄUSER 
https://www.quart.ch



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